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Drei Jahre später

»Faith«, sagte Renee angespannt. »Tu was, daß Scottie damit aufhört. Er macht mich noch wahnsinnig.« Faith stellte die Kartoffeln, die sie gerade schälte, beiseite, und ging zu der Drahttür, an der Scottie schnaufend kratzte und auf diese Weise kundtat, daß er in den Garten wollte. Ohne Begleitung aber durfte er nicht nach draußen. Die Worte »bleib aber schön im Garten« konnte er nicht begreifen, sondern streifte umher und verirrte sich. Am oberen Ende der Tür befand sich ein für ihn nicht erreichbarer Riegel, der immer verschlossen war, damit er sich nicht hinausstehlen konnte. Faith war gerade mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt, obwohl vermutlich nur sie und Scottie zu Hause sein würden. Sie konnte jetzt mit ihm nicht raus.

Sie zog seine Hände von der Tür weg und fragte: »Willst du ein bißchen Ball spielen, Scottie? Wo ist er denn, dein Ball?«

Leicht abzulenken, trabte das Kind los, um seinen roten, abgegriffenen Ball zu suchen. Daß ihn das nicht sehr lange beschäftigen würde, war Faith nur zu klar. Seufzend machte sie sich wieder? an die Kartoffeln.

Renee trat aus ihrem Schlafzimmer. Faith sah sofort, daß sie sich heute besonders schick gemacht hatte. Sie trug ein kurzes, rotes Kleid, das ihre langen, schönen Beine zeigte und sich merkwürdigerweise farblich nicht mit ihren roten Haaren biß. Renee hatte wunderschöne Beine. Eigentlich war alles an ihr schön, und sie war sich dessen auch sehr bewußt. Ihr volles rotes Haar hatte sie aufgebauscht, und das würzige Parfüm haftete an ihr wie ein starker, roter Duft. »Nun, wie sehe ich aus?« fragte sie, drehte sich einmal um sich selbst und befestigte ihre billigen Bergkristallohrringe an ihren Ohrläppchen.

»Wunderbar«, antwortete Faith, die genau wußte, was Renee hören wollte. Außerdem entsprach es ganz einfach der Wahrheit. Renee war durch und durch unmoralisch, aber sie war auch aufsehenerregend schön mit ihrem perfekt geschnittenen, ein wenig exotischen Gesicht.

»Also dann, ich gehe jetzt.« Sie beugte sich vor und plazierte einen flüchtigen Kuß auf Faiths Kopf.

»Amüsier dich gut, Mama.«

»Darauf kannst du jede Wette eingehen«, erwiderte Renee lachend. »Und ob ich das tun werde.« Sie schob den Riegel zurück und verließ mit schimmernden Beinen die schäbige Baracke.

Faith lehnte sich an die Drahttür und beobachtete, wie Renee in ihr schickes kleines Cabrio stieg und losfuhr. Ihre Mutter liebte dieses Auto. Eines schönen Tages war sie damit angefahren gekommen, ohne daß sie jemandem erklärt hätte, wie sie in seinen Besitz gekommen war. Nicht daß es diesbezüglich große Zweifel gegeben hätte. Guy Rouillard hatte es ihr gekauft.

Scottie bemerkte Faith an der Tür und schnaubte wieder, zum Zeichen, daß er hinauswollte. »Ich kann nicht mit dir rausgehen«, erklärte ihm Faith mit unendlicher Geduld, obwohl der Junge wohl kaum etwas von dem Gesagten verstand. »Ich muß das Abendessen kochen. Möchtest du lieber Bratkartoffeln oder Kartoffelbrei?« Das war natürlich eine rein rhetorische Frage, denn es fiel Scottie wesentlich leichter, Kartoffelbrei zu essen. Sie strich ihm über sein dunkles Haar und wandte sich wieder dem Tisch und der Kartoffelschüssel zu.

In letzter Zeit war Scottie nicht so quirlig wie gewohnt gewesen. Seine Lippen liefen beim Spielen oft bläulich an. Sein Herz wurde schwächer, ganz wie die Ärzte es vorhergesagt hatten. Für Scottie würde es das Wunder der Herztransplantation nicht geben, selbst wenn es sich die Devlins hätten leisten können. Die wenigen verfügbaren Kinderherzen waren zu wertvoll, als daß man eines davon einem kleinen Jungen gegeben hätte, der sich niemals würde allein anziehen können, niemals würde lesen oder zeit seines Lebens mehr als ein paar unverständliche Worte würde gurgeln können. Er wurde als 'stark zurückgeblieben' eingestuft. Obwohl Faith bei dem Gedanken an Scotties Tod einen Kloß in ihrer Kehle spürte, empfand sie keinerlei Bitterkeit über die Tatsache, daß man gegen Scotties Gesundheitsverfall nichts unternehmen konnte. Ein neues Herz würde Scottie nicht helfen können, jedenfalls in keiner sinnvollen Weise. Die Ärzte hatten ohnehin nicht erwartet, daß er so lange am Leben bliebe. Sie jedenfalls würde, welches Alter er auch immer erreichen sollte, auf ihn aufpassen.

Zeitweilig hatte sie geglaubt, daß er Guy Rouillards Sohn sei. Dann wurde sie wütend darüber, daß man ihn nicht in das große weiße Haus brachte, wo er die beste Versorgung genießen würde und seine letzten Jahre glücklich verleben könnte. Sie glaubte, daß es Guy wegen Scotties geistiger Behinderung nur zu recht war, ihn nicht in seiner näheren Umgebung zu wissen.

Die Wahrheit aber war, daß Scottie genausogut Papas Sohn sein konnte. Scottie sah weder dem einen noch dem anderen Mann ähnlich, er sah eben aus, wie nur Scottie aussah. Er war jetzt sechs Jahre alt und ein friedfertiger kleiner Junge, der sich mit den kleinsten Dingen zufriedengab. Seine Selbstsicherheit aber war ganz und gar abhängig von seiner vierzehnjährigen Schwester. Faith hatte sich seit dem Tag, an dem Renee ihn aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatte, um ihn gekümmert. Sie hatte ihn vor Papas trunkenen Wutanfällen beschützt und Russ und Nicky davon abgehalten, ihn unbarmherzig zu hänseln. Renee und Jodie beachteten ihn gewöhnlich einfach gar nicht, was Scottie seinerseits nichts auszumachen schien.

An diesem Abend hatte Jodie Faith vorgeschlagen, mit ihr zu einer Doppelverabredung zu kommen und lediglich mit den Schultern gezuckt, als ihre jüngere Schwester mit der Begründung ablehnte, sie müsse Scottie hüten. Faith wäre ohnehin nicht mit Jodie ausgegangen, dazu klafften ihre Vorstellungen von Vergnügen einfach zu weit auseinander. Jodie fand es toll, sich mit ihren sechzehn Jahren illegalerweise Alkohol zu besorgen, sich dann zu betrinken und mit einem oder gleich mit mehreren Jungen in ihrer Begleitung zu schlafen.

Alles in Faith widersetzte sich dieser Vorstellung. Sie hatte erlebt, wie Jodie nach Bier und nach Sex stinkend nach Hause gekommen war, die Kleidung zerrissen und beschmutzt, während sie sich hatte totlachen wollen darüber, wieviel 'Spaß' ihr der Abend doch gemacht habe. Es schien ihr überhaupt nichts auszumachen, daß dieselben Jungen in der Öffentlichkeit jeglichen Kontakt mit ihr ausdrücklich mieden.

Faith aber machte es jede Menge aus. Die abschätzigen Blicke der Leute, wenn sie ihr oder einem ihrer Familienmitglieder begegneten, waren ihr irrsinnig peinlich. Die verwahrlosten Devlins, so nannte man sie. Trunkenbolde und Huren, alle miteinander.

Aber ich bin doch gar nicht so! Dieser stumme Schrei wollte sich manchmal einen Weg nach außen bahnen, aber Faith unterdrückte ihn immer. Warum nur konnten die Leute nicht über den Namen hinaussehen? Sie malte sich nicht das Gesicht an, noch trug sie zu kurze und zu enge Sachen wie Renee und Jodie. Weder trank sie, noch hielt sie sich in zwielichtigen Lokalen auf, um irgendeinen Kerl aufzureißen. Ihre Kleidung war billig und schlecht gemacht, aber sie hielt sie sauber. Sie verpaßte keinen einzigen Schultag, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Außerdem hatte sie gute Zensuren und sehnte sich nach Anerkennung. Sie wollte einen Laden betreten können, in dem das Verkaufspersonal sie nicht mit Argusaugen verfolgte, weil sie eine von diesen verwahrlosten Devlins war, von denen ja jeder wußte, daß sie stahlen wie die Raben. Sie wollte einfach nicht, daß Menschen bei ihrem Anblick hinter ihrem Rücken tuschelten.

Ihre Ähnlichkeit mit Renee, viel betonter als die zwischen Jodie und ihrer Mutter, war dabei wenig hilfreich. Faith hatte das gleiche dichte, dunkelrot lodernde Haar, den gleichen porzellanweißen Teint, die gleichen hohen Wangenknochen und exotischen grünen Augen. Ihr Gesicht hatte nicht dieselbe perfekte Ausgewogenheit wie das von Renee, es war schmaler und ihr Kinn etwas betonter, und ihr Mund war zwar breit, aber nicht so sinnlich. Renee hatte eine weibliche Figur, wogegen Faith sowohl größer als auch schlanker war. Ihr Körperbau war viel zarter. Ihr Busen hatte endlich zu wachsen begonnen, fest und vorwitzig. Jodie aber hatte in ihrem Alter bereits einen Büstenhalter getragen, der zwei Nummern größer war.

Weil sie Renee äußerlich so ähnlich war, schienen die Leute auch das gleiche Benehmen von ihr zu erwarten. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Faith war eben wie der Rest der Familie: mitgefangen, mitgehangen.

»Aber eines Tages werde ich hier ausbrechen, Scottie«, sagte sie leise. »Da kannst du sicher sein.«

Scottie reagierte nicht, sondern hämmerte weiter gegen die Drahttür.

Wie immer, wenn sie sich selbst aufheitern wollte, dachte sie an Gray. Ihre heftigen Gefühle waren in den drei Jahren, seit sie ihn mit Lindsey Partain hatte schlafen sehen, nicht abgeflaut.

Im Gegenteil, sie erschienen ihr jetzt noch intensiver. Die vollkommene Hingabe, mit der sie ihn als Elfjährige beobachtet hatte, hatte sich einerseits gesteigert, andererseits aber auch verändert. Heute mischten sich körperliche Sehnsüchte mit romantischen Vorstellungen, die bei ihrer Erziehung weit ausführlicherer Natur waren, als man es von einem vierzehnjährigen Mädchen erwartet hätte.

Ihre Träume waren aber nicht nur von ihrer eigenen Umgebung beeinflußt. Jener Tag, als sie Gray und Lindsey Partain – mittlerweile Lindsey Mouton – im Sommerhaus beobachtet hatte, hatte ihr viel von Grays Körper gezeigt. Sein Geschlechtsteil war vor ihrem Blick verborgen gewesen, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte – was nicht so schlimm war, denn sie wußte, wie so etwas aussah. Nicht nur hatte sie Scottie sein ganzes Leben lang umsorgt, auch Papa und Russ und Nicky zogen das Ding, wenn sie betrunken waren, einfach aus der Hose und pinkelten lieber direkt vor die Tür, als die Toilette aufzusuchen.

Aber Faith kannte Grays Körper gut genug, daß sie davon träumen konnte. Sie wußte, daß er kräftige, schwarzbehaarte Beine hatte, daß sein Hintern klein und rund und fest war und daß direkt darüber zwei bezaubernde Grübchen lagen. Sie wußte, daß er kräftige, breite Schultern und einen langen Rücken besaß und sein Rückgrat tief zwischen den ausgeprägten Muskeln eingegraben lag. Auf seiner breiten Brust hatte sie einen schwarzen Haarflaum bemerkt.

Sie wußte, daß er, wenn er liebte, es auf französisch und mit tiefer, lockender, zärtlicher Stimme tat.

Seine Fortschritte an der LSU hatte sie mit heimlicher Freude verfolgt. Er hatte in zwei Fächern, nämlich Volks- und Betriebswirtschaft, mit einem Diplom abgeschlossen, weil er sich auf die irgendwann anstehende Übernahme der Rouillardgeschäfte vorbereitete. So gut er auch als Footballer gewesen war, eine Karriere als Profi hatte er nicht angestrebt. Statt dessen war er zurückgekehrt, um Guy zur Seite zu stehen. Jetzt würde sie das ganze Jahr über Blicke von ihm erhaschen können, nicht nur während der Sommerferien und an Feiertagen.

Leider war auch Monica wieder nach Hause zurückgekehrt. Wie gewohnt, zeigte sie hemmungslos ihre tiefe Abscheu. Andere legten lediglich eine Art von Verachtung an den Tag, aber Monica haßte buchstäblich alle, die auf den Namen Devlin hörten. Das konnte ihr Faith nicht verübeln, manchmal brachte sie ihr sogar Verständnis entgegen. Keiner konnte behaupten, daß Guy Rouillard ein schlechter Vater war. Er liebte seine beiden Kinder, und sie liebten ihn. Was empfand Monica, wenn sie das Gerede der Leute über Guys jahrelanges Verhältnis mit Renee hörte? Und daß ihr Vater ganz offen ihre Mutter betrog?

Als Faith noch jünger gewesen war, hatte sie sich manchmal vorgestellt, daß Guy auch ihr Vater wäre. Amos hatte sie dabei vollkommen verdrängt. Guy war groß und dunkel und aufregend. Sein schmales Gesicht ähnelte dem von Gray so sehr, daß sie ihn unter keinen Umständen würde hassen können. Er hatte sich immer freundlich ihr gegenüber verhalten und hatte dieses Verhalten auch allen anderen Kindern Renees gezeigt. Faith aber schien er besonders in sein Herz geschlossen zu haben und hatte ihr sogar ein oder zweimal eine Kleinigkeit geschenkt. Faith vermutete, daß das ihrer Ähnlichkeit mit Renee zuzuschreiben gewesen war. Wenn Guy ihr Vater wäre, wäre Gray ihr Bruder. Sie hätte ihn aus nächster Nähe bewundern und in demselben Haus wie er wohnen können. Bei diesen Tagträumereien hatte sie ihrem eigenen Vater gegenüber immer Schuldgefühle empfunden. Danach gab sie sich besonders viel Mühe, nett zu ihm zu sein. In letzter Zeit jedoch freute sie sich darüber, daß Guy nicht ihr Vater war. Sie wollte nicht länger Grays Schwester sein.

Sie wollte ihn heiraten.

Diese allergeheimste Vorstellung war so schockierend, daß sie allein der Mut schon erstaunte, so etwas auch nur zu träumen. Ein Rouillard sollte eine Devlin heiraten? Eine Devlin sollte die hundert Jahre alte Villa betreten? Die alten Rouillards würden aus ihren Gräbern auferstehen, um den Eindringling zu vertreiben. Die ganze Stadt wäre vollkommen entsetzt.

Dennoch träumte sie weiter. Sie träumte von einem weißen Kleid, in dem sie in der Kirche auf den Altar zuging, neben dem Gray mit dunkel verhangenem Blick wartete. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck wilden Begehrens, das ausschließlich auf sie gerichtet war. Sie träumte davon, wie er sie in seine Arme hob und über die Türschwelle trug. Natürlich nicht über die Schwelle der Rouillardvilla, das lag außerhalb jeder Vorstellung. Aber vielleicht gäbe es einen anderen Ort, der ihnen beiden gehörte. Vielleicht ein Flitterwochenhäuschen, wo er sie zu einem großen Bett hinübertrug. Sie stellte sich vor, wie sie unter ihm lag und ihre Beine um ihn klammerte, wie sie es bei Lindsey gesehen hatte, stellte sich seine Bewegungen vor, hörte seine verführerische Stimme, die ihr französische Liebkosungen ins Ohr flüsterte. Sie wußte, was Männer und Frauen miteinander machten, wußte, wohin er sein Ding dirigieren würde, obschon sie sich das Gefühl dabei nicht vorstellen konnte. Jodie behauptete, daß es ein wunderbares Gefühl sei, das allerbeste überhaupt .. .

Scotties unvermittelter Aufschrei schreckte Faith aus ihren Tagträumereien. Sie ließ die Kartoffel aus der Hand fallen und sprang auf. Denn Scottie schrie nur dann, wenn er sich wirklich wehgetan hatte. Er stand noch immer an der Drahttür und umklammerte seinen Finger. Faith hob ihn auf, trug ihn zum Tisch hinüber, setzte ihn auf ihren Schoß und betrachtete seine Hand. An seinem Zeigefinger war ein kleiner Schnitt. Vermutlich hatte er sich an einem Löchlein in dem Gitter verletzt, der lose Draht hatte sich in seine Haut gegraben. Ein Blutstropfen bildete sich auf der kleinen Wunde.

»Schon gut, schon gut«, umarmte sie ihn tröstend und wischte ihm die Tränen ab. »Ich klebe dir ein Pflaster drauf, dann wird es wieder gut. Du magst doch Pflaster.«

Das stimmte. Wann immer er eine kleine Verletzung hatte, beklebte sie ihm Arme und Beine, denn er bettelte so lange, bis alle Pflaster in der Schachtel aufgebraucht waren. Sie hatte deshalb die meisten Pflaster aus der Schachtel genommen und versteckt, so daß er nur zwei oder drei sehen konnte.

Sie wusch sich die Hände und holte die Schachtel aus dem obersten Regal, wo sie sie vor seinen Händen sicher aufbewahrte. Sein kleines rundes Gesicht glühte vor Freude und Erwartung, als er ihr seinen kurzen Finger entgegenstreckte, den Faith bandagierte.

Er beugte sich vor, schaute in die offene Schachtel, grunzte und streckte ihr die andere Hand entgegen.

»Die ist auch verletzt? Die arme Hand!« Sie küßte die kleine dicke Pfote und klebte ihm ein weiteres Pflaster drauf.

Wieder beugte er sich vor, schaute in die Schachtel, hob sie grinsend in die Luft und streckte sein rechtes Bein vor.

»Du meine Güte, du bist ja überall verletzt!« rief Faith aus und klebte ihm ein Pflaster auf sein Knie.

Ein letztes Mal schaute er in die mittlerweile leere Schachtel. Dann trabte er zufrieden zur Tür zurück, während Faith sich wieder dem Essen zuwandte.

An den langen Sommertagen begann es um halb neun gerade erst zu dämmern, aber bereits um acht wurde Scottie müde und döste vor sich hin. Faith badete ihn und brachte ihn ins Bett. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie ihm übers Haar strich. Er war solch ein süßer kleiner Junge und wußte so gar nichts von seinem gesundheitlichen Zustand, der ihn das Erwachsenenalter nicht würde erleben lassen.

Um halb zehn hörte sie, wie Amos mit seinem alten, ratternden Auto vorfuhr. Sie stand auf, um den Riegel zu öffnen und ihn einzulassen. Er stank nach Whiskey, ein scharfer, grünlich-gelber Geruch.

Er stolperte über die Türschwelle und richtete sich auf.

»Wo ist deine Mutter?« knurrte er mit dem häßlichen Unterton, mit dem er sprach, wenn er betrunken war. Und das war fast immer der Fall.

»Sie ist vor etwa zwei Stunden weggegangen.«

Er torkelte auf den Tisch zu, wobei der unebene Boden jeden seiner Schritte zusätzlich erschwerte. »Verdammte Kuh«, murmelte er. »Nie ist sie hier. Dauernd geht sie aus und wackelt vor ihrem tollen reichen Freund mit dem Arsch. Nie ist sie hier, um mir das Abendessen zu kochen. Wie soll da ein Mann satt werden?« brüllte er plötzlich und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das Abendessen ist fertig, Papa«, erwiderte Faith leise und hoffte, daß der Ausbruch nicht Scottie geweckt hatte. »Ich bringe dir einen Teller.«

»Will nichts essen«, erwiderte er, ganz wie sie es erwartet hatte. Wenn er trank, dann hatte er nie Hunger. Dann wollte er nur noch mehr trinken. »Gibt es in diesem verdammten Haus was zu saufen?« Strauchelnd stand er auf und öffnete die Schranktüren. Als er nichts fand, schlug er sie laut wieder zu.

Faith reagierte schnell. »Im Jungenzimmer ist eine Flasche. Ich hol sie dir.« Sie wollte nicht, daß Amos dort herumtorkelte, sich dann womöglich auch noch übergäbe und Scottie weckte. Sie raste in das kleine dunkle Zimmer und tastete unter Nickys Bett herum, bis ihre Hand auf kühles Glas stieß. Sie zerrte die Flasche hervor und eilte in die Küche. Sie war nur noch ein Viertel voll, aber das würde Papa zufriedenstellen. Sie schraubte den Verschluß ab und reichte sie ihm.

»Hier, Papa.«

»Gutes Mädchen«, sagte er erfreut und setzte die Flasche an die Lippen. »Du bist ein gutes Mädchen, Faith. Nicht so eine Hure wie deine Mutter und deine Schwester.«

»Sprich nicht so über sie«, protestierte sie angewidert. Sich dieser Tatsache bewußt zu sein war eine Sache, sie auch auszusprechen eine gänzlich andere. Außerdem sollte derjenige, der im Glashaus saß, nicht unbedingt mit Steinen schmeißen.

»Ich kann hier sagen, was ich gottverdammt noch mal will!« brauste Amos auf. »Widersprich mir nicht, sonst zieh ich dir einen mit dem Riemen über.«

»Ich habe dir nicht widersprochen, Papa.« Obwohl ihre Stimme ruhig blieb, rückte Faith vorsorglich etwas von ihm ab.

Wenn er sie nicht zu fassen bekam, dann konnte er sie auch nicht schlagen. Vielleicht würde er etwas nach ihr werfen. Aber sie war schnell, und seine Geschütze trafen sie nur selten.

»Tolle Kinder hat sie mir beschert«, schimpfte er. »Russ und Nicky sind die einzigen, die ich ertragen kann. Jodie ist eine Hure wie ihre Mutter. Und du, du bist eine besserwisserische Tucke, und der letzte ist ein gottverdammter Idiot.«

Faith hielt den Kopf gesenkt, so daß er ihre beißenden Tränen nicht sehen konnte. Sie setzte sich auf das alte, ausgebeulte Sofa und begann die Wäsche zu falten, die sie heute gewaschen hatte.

Man durfte es Amos niemals merken lassen, wenn er einen verletzte. Denn wenn er Blut roch, ging er aufs Ganze. Je betrunkener er war, desto gemeiner wurde er. Am besten, man beachtete ihn nicht weiter. Wie alle Säufer ließ er sich leicht ablenken. Außerdem würde er ihrer Meinung nach ohnehin gleich umkippen.

Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr das alles immer noch so wehtat. Schon seit Jahren war sie Amos gegenüber vollkommen abgestumpft, hatte noch nicht einmal mehr Angst. Zu lieben gab es da schon lange nichts mehr, denn der Mann hatte sich mit unzähligen Flaschen Whiskey selbst zerstört. Wenn er jemals anders gewesen war, dann war es damit bei ihrer Geburt jedenfalls schon vorbei gewesen. Aber irgendwie glaubte sie, daß er sich nicht viel verändert hatte. Er war einfach die Art Mensch, die immer andere für die eigene Misere verantwortlich machte, anstatt selber etwas dagegen zu unternehmen.

Wenn er manchmal nüchtern war, konnte Faith erahnen, was Renee seinerzeit an ihm anziehend gefunden hatte. Amos war etwas größer als der Durchschnitt und besaß einen drahtigen Körper, der niemals Fett angesetzt hatte. Sein Haar war noch immer dunkel, wenngleich es auch ein wenig schütter geworden war. Man konnte ihn noch immer als gutaussehenden Mann bezeichnen – sofern er nüchtern war. Betrunken wie jetzt jedoch, unrasiert, mit unordentlich und fettig herabhängendem Haar, rotgeschwollenen, alkoholisierten Augen und aufgedunsenem Gesicht gab es überhaupt gar nichts, was man hätte attraktiv finden können. Seine Kleidung war voller Flecken und dreckig, und er stank gen Himmel. Seinem säuerlichen Atem nach zu urteilen hatte er sich an diesem Tag bereits mehr als einmal übergeben. Die Flecken auf der Vorderseite seiner Hose zeugten davon, daß er beim Wasserlassen nicht sehr umsichtig gewesen war.

Er trank schweigend die Flasche aus und rülpste laut. »Muß pinkeln«, verkündete er, stand taumelnd auf und ging auf die Eingangstür zu.

Faith hörte, wie der Urin auf die Türschwelle spritzte und eine Pfütze bildete, durch die jeder, der heute Nacht irgendwann zu Hause auftauchte, hindurchgehen mußte. Sie würde gleich als erstes morgen früh den Fußboden wischen.

Amos torkelte wieder ins Haus. Er hatte seinen Hosenschlitz nicht geschlossen, aber wenigstens war sein Geschlecht nicht zu sehen.

»Ich gehe ins Bett«, verkündete er und verzog sich. Faith sah ihn stolpern und sich am Türknauf wieder aufrichten. Er zog sich nicht aus, sondern fiel so, wie er war, auf das Bett. Wenn Renee nach Hause kam und Amos in seinen dreckigen Klamotten quer über dem Bett liegen sah, würde sie einen Riesenaufstand machen und alle im Hause wecken.

Innerhalb weniger Minuten hallte Amos' lautes Schnarchen durch die beengte Baracke.

Faith stand eilig auf und ging zu dem kleinen Anbau am hinteren Ende des Hauses, den sie sich mit Jodie teilte. Nur Amos und Renee hatten ein richtiges Bett, alle anderen besaßen lediglich Pritschen. Sie machte das Licht an, eine einzige nackte Glühbirne, und streifte sich schnell ihr Nachthemd über. Dann zog sie ihr Buch unter der Matratze hervor. Jetzt, wo Scottie schlief und Amos schnarchte, hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar friedliche Stunden für sich, bevor die anderen wieder eintrudelten. Amos kehrte immer als erster zurück, verließ allerdings auch am Morgen als erster das Haus.

Sie hatte gelernt, jede Gelegenheit zur Entspannung zu nutzen und den Augenblick zu genießen. Sie hatte viel zu wenige solcher Augenblicke in ihrem Leben, als daß sie sie einfach verstreichen lassen könnte. Sie liebte Bücher und las alles, was ihr in die Hände fiel. Es hatte etwas Wunderbares, wie man die Wörter aneinanderreihen und dadurch eine ganz neue Welt erschaffen konnte. Beim Lesen konnte sie diese vollgestopfte Baracke hier vollkommen vergessen. Sie durfte aufregende Welten voll Schönheit und Liebe betreten. Wenn sie las, dann glaubte sie jemand anderes zu sein, jemand, der Respekt verdiente. Und nicht eine von diesen heruntergekommenen Devlins.

Sie hatte jedoch auch gelernt, nicht in Gegenwart von Papa oder den Jungen zu lesen. Wenn es glimpflich abging, dann machten sie sich lediglich lustig über sie. Wenn sie aber übler Laune waren, dann konnte es passieren, daß sie ihr das Buch entrissen und es ins Feuer oder in die Toilette warfen. Wenn sie dann hektisch versuchte, das Buch zu retten, wollten sie sich nicht mehr einkriegen vor Lachen, ganz so, als ob es das Komischste sei, was sie jemals gesehen hätten. Renee warf ihr manchmal vor, daß sie ihre Zeit mit Lesen verschwendete, anstatt sich um andere Dinge zu kümmern, aber immerhin nahm sie ihr die Bücher nicht weg. Jodie machte sich zwar manchmal über sie lustig, aber im Grunde genommen war es ihr vollkommen gleichgültig, was ihre Schwester tat. Sie konnte schlicht nicht begreifen, warum Faith ihre Nase lieber in ein Buch steckte, als sich zu amüsieren.

Diese kostbaren Momente allein, wenn Faith in Frieden lesen konnte, waren der Höhepunkt des Tages – ausgenommen die Tage, an denen sie Gray gesehen hatte. Manchmal glaubte sie, ohne Bücher wahnsinnig zu werden und ohne Unterlaß schreien zu müssen. Aber ganz gleich, was Papa auch tat, ganz gleich, wer über ihre Familie schlecht sprach, ganz gleich, was Russ und Nicky trieben und wie sehr Scottie auch kränkelte, wenn sie ein Buch vor sich hatte, dann konnte sie sich darin verlieren. Und heute hatte sie reichlich Zeit zum Lesen und konnte sich in die Geschichte der Rebecca vertiefen. Sie legte sich auf ihre Pritsche, zog die Kerze unter ihrem Bett hervor, zündete sie an, stellte sie neben sich und lehnte ihren Rücken gegen die Wand. Das Kerzenlicht, so schwach es auch sein mochte, machte das grelle Licht der Glühbirne wett. Sie erlaubte es ihr zu lesen, ohne die Augen allzusehr anzustrengen. Eines Tages würde sie sich eine Lampe kaufen. Sie stellte sich eine richtige Leselampe vor, die ein weiches, helles Licht verbreitete. Zusätzlich würde sie noch eines dieser Lesekissen besitzen und es sich in den Rücken klemmen.

Eines Tages.

Es war schon fast Mitternacht, als sie den Kampf mit ihren schweren Augenlidern aufgab. Sie haßte es, wenn sie aufhören mußte, da sie keine Minute dieser wertvollen Zeit verschwenden wollte. Aber sie war so müde, daß sie sich gar keinen Reim mehr aus den Worten machen konnte. Die Worte aber zu verschwenden war noch viel schlimmer als die Zeit zu vertrödeln. Seufzend stand sie auf, legte das Buch in sein Versteck zurück und löschte das Licht. Dann kroch sie zwischen die Laken, wobei die Pritsche unter ihrem Gewicht ächzte, und blies die Kerze aus.

Paradoxerweise konnte sie in der plötzlichen Dunkelheit nicht einschlafen. Sie wälzte sich auf der schmalen Pritsche, halb dösend, halb wachträumend hin und her und durchlebte noch einmal die geheimnisvolle Liebesgeschichte des eben gelesenen Buches. Sie hörte Russ und Nicky kurz vor ein Uhr vorfahren. Rücksichtslos laut torkelten sie ins Haus und lachten schallend über irgend etwas, das ihre Saufkumpane sich an diesem Abend geleistet hatten. Beide waren noch minderjährig. Aber etwas so Unwichtiges wie das Gesetz hatte einen echten Devlin noch nie an irgend etwas gehindert. Die Jungen konnten sich zwar nicht in Kneipen sehen lassen, aber es gab noch genügend andere Quellen, um sich Alkohol zu beschaffen. Manchmal stahlen sie ein paar Flaschen, manchmal überredeten sie andere Leute, Alkohol für sie zu kaufen. Das wiederum bedeutete, daß sie das Geld dafür gestohlen hatten. Keiner der beiden hatte eine Arbeit, weder Teilzeit noch sonst irgend einen Job, weil niemand sie anstellen wollte. Es war schließlich stadtbekannt, daß die Devlinjungs einen bis auf das Hemd auszogen.

»Der alte Poss«, kicherte Nicky. »Braaach!«

Diese Bemerkung reichte, um bei Russ einen Schluckauf zu provozieren. Von den wenigen Satzbrocken, die Faith mitbekam, schien es so, als ob 'der alte Poss', wer immer das auch sein mochte, sich bei einem lauten Knall erschreckt hatte. Die Jungen schienen das zum Schreien komisch zu finden, würden sich aber vermutlich schon am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern können.

Sie weckten Scottie, der aber nur grunzte, nicht weinte. Also blieb sie in ihrem Bett. Sie wäre nur äußerst ungern im Nachthemd in das Zimmer ihrer Brüder gegangen. Dennoch hätte sie es getan, wenn Scottie ängstlich geworden und in Tränen ausgebrochen wäre. Aber Nicky sagte: »Sei ruhig und schlaf wieder.« Daraufhin verstummte Scottie. Innerhalb weniger Minuten schliefen sie alle, und das Schnarchen hob und senkte sich in der Dunkelheit.

Eine halbe Stunde später kam Jodie nach Hause. Sie war leise, jedenfalls versuchte sie leise zu sein. Sie ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer und trug ihre Schuhe in der Hand. Der Gestank von Bier und Sex hing an ihr, eine ekelerregende gelb-rot-braune Mischung. Sie machte sich nicht die Mühe sich auszuziehen, sondern ließ sich zufrieden seufzend auf ihre Pritsche fallen.

»Bist du noch wach, Faithie?« fragte sie kurz darauf mit lallender Stimme.

»Ja.«

»Das dachte ich mir. Du hättest mit mir mitkommen sollen.

Wir hatten jede Menge Spaß, echt.« Der letzte Satz hatte einen tiefen erotischen Unterton. »Du weißt gar nicht, was du verpaßt, Faithie.«

»Dann verpasse ich doch gar nichts, oder?« flüsterte Faith, und Jodie kicherte.

Faith fiel in einen leichten Schlaf und horchte nach Renees Auto. Dann erst würde sie sicher sein, daß alle wieder wohlbehalten zu Hause waren. Zweimal fuhr sie aus dem Schlaf hoch. War Renee von ihr unbemerkt zurückgekommen? Sie stand auf und ging ans Fenster, um nach dem Auto ihrer Mutter zu sehen.

Es war noch nicht da.

In jener Nacht nämlich kam Renee überhaupt nicht nach Hause.